Lenny’s Laterne

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. (Karl Kraus)

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Demokratie auf Kante:

Einleitung: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!

„Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.“ Dieser Satz stammt von Alfred Polgar, der ihn bereits 1921 prägte – und der, obwohl er oft Karl Kraus zugeschrieben wird, die paradoxe Situation in Bremerhaven perfekt zusammenfasst. Die Lage ist dramatisch…

Wir stehen vor dramatischen Herausforderungen, einer spürbaren Verweigerungshaltung seitens der Politik, doch inmitten dessen dürfen wir den Blick für die Absurdität und den Mut zur Kritik nicht verlieren. Woher rührt dieser Eindruck? Von der Art und Weise, wie die politische Mehrheit mit Kritik, Bürgerengagement und manchmal sogar mit der Wahrheit umgeht.

Die Verweigerung der Wirklichkeit: Zwischen „Klamauk“ und „Zaungästen“

In unserer Demokratie erwarten wir einen offenen Dialog, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Anliegen der Bürger. Doch die Realität sieht oft anders aus. Wir erleben ein Machtbewusstsein, das die Wirklichkeit, wie sie von vielen Menschen wahrgenommen wird, schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen will. Diese wachsende Distanz zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit ist nicht nur ein Gefühl, sondern manifestiert sich in konkreten Aussagen und Entscheidungen.

Wenn ein Dezernent ein Bürgerbegehren als „Klamauk“ abtut, oder ein Oberbürgermeister Hoteliers, die um ihre Existenz kämpfen, den „Welpenschutz“ abspricht, dann wird der politische Raum symbolisch für geschlossen erklärt. Noch deutlicher wird es, wenn gewählte Abgeordnete die Entscheidung über ein umstrittenes Hotelprojekt (wie das Premier Inn) hinnehmen und sich selbst resigniert als „Zaungäste“ bezeichnen. Solche Äußerungen sind mehr als nur unglücklich – sie sind Symptome einer tiefen Delegitimierung demokratischer Prozesse.

Die politische Denkerin Hannah Arendt hat diesen Konflikt treffend analysiert: „Die Mehrheit ist eine politische Kategorie, keine Wahrheitskategorie.“ Fakten und Wahrheiten entstehen nicht durch Mehrheitsbeschlüsse. Demokratie lebt davon, dass Macht an Verfahren gebunden ist. Doch sie stirbt, wenn diese Verfahren dazu genutzt werden, den Raum für Kritik, Erfahrung und das Finden einer gemeinsamen Wahrheit zu verengen.

Wenn Verwaltung zu schnell wird für die Demokratie: Das Beispiel Kita Weichselstraße

Ein Lehrbuchbeispiel für diese Entkoppelung ist der Kita-Bau in der Weichselstraße. Die Rodung eines Waldstücks fand statt, bevor eine ernsthafte öffentliche Debatte oder ein Bürgerdialog überhaupt stattfinden konnte. Die Botschaft war unmissverständlich: Wir sind die Verwaltung, wir sind die Profis, und wir sind schneller als eure Demokratie.

Das Protokoll der Stadtverordnetenversammlung zu dieser Debatte liest sich wie eine Ode an das Verwaltungshandeln, nicht an die öffentliche Auseinandersetzung. Die politische Essenz der ablehnenden Haltung der Koalition wurde in einem Satz manifestiert, der tief blicken lässt: „Petitionen dürfen nicht dazu führen, dass Verwaltungshandeln öffentlich verhandelt wird.“

Hier wird Legalität zur Waffe, die Legitimität ersetzt. Die Entscheidung mag formal korrekt sein, doch sie verliert ihre Akzeptanz und Vertrauensbasis in der Bevölkerung. Eine Demokratie, die nur auf formaler Korrektheit beruht, ist eine Demokratie auf Kante. Sie lebt nur, wenn Legalität und Legitimität Hand in Hand gehen.

Der Haushalt als Spiegel der Wirklichkeit: Absurde Prioritäten und ihre Folgen

Diese Verweigerungshaltung hat direkte und gravierende finanzielle Konsequenzen, die sich im Doppelhaushalt 2025 spiegeln. Auf dem Papier ist dieser Haushalt ausgeglichen. In Wirklichkeit jedoch weist er ein strukturelles Defizit von über 110 Millionen Euro auf. Da Konsolidierungspflicht besteht, wird die Realität mit juristischen und buchhalterischen Tricks kaschiert:

  1. Die Technische Ausgleichsposition (TAP): Ein tatsächlicher Fehlbetrag von 40,2 Millionen Euro wird formal „weggerechnet“. TAP klingt wie ein leichter Tanzschritt, ist aber in Wahrheit eher ein Stolpern der Haushaltsführung.
  2. Der Notlagen-Kreditrahmen: Ein enormer Schuldenrahmen von 130,5 Millionen Euro wird über die Notlagenklausel des Landes begründet. Doch die moralische Frage, ob alle daraus finanzierten Projekte wirklich Notlagencharakter haben, bleibt offen.

Der Bremer Staatsgerichtshof hat diese Praxis in seinem Urteil scharf gerügt. Er stellte klar, dass eine rein formale Einhaltung der Schuldenbremse die materielle Haushaltsverantwortung nicht ersetzt. Die Botschaft ist eindeutig: Buchhalterische Tricks sind keine Lösung für strukturelle Probleme.

Und während die Juristen über die Materie streiten, setzt die Politik Prioritäten, die oft absurd anmuten:

Maßnahme / BereichVolumen (2025)Kritischer Kontext
Defizit (Real)−110 Mio. €Das eigentliche strukturelle Loch.
TAP (Buchhaltung)+40,2 Mio. €Die „Technische Ausgleichsposition“, die das Defizit auf dem Papier neutralisiert.
Sparpaket (Personal/Strukturen)−6 bis −8 Mio. €Einsparungen, die direkt Menschen und städtische Leistungen betreffen.
Kürzung (Kultur)−1,1 Mio. €Kleine, aber wichtige Kulturbühnen wie das Piccolo Theater werden massiv gekürzt oder fallen ganz weg.
Investition (STÄGRUND/NOVO)+45 Mio. €Die größte Einzelinvestition, die als Kapitaleinlage für ein nicht notlagenrelevantes Großprojekt fließt und die Stadt für 30 Jahre an hohe Mietzahlungen bindet.

Das Verhältnis ist klar: Während an Personal und Kultur gespart wird, fließen 45 Millionen Euro in ein Großprojekt wie NOVO. Diese „nur“ 45 Millionen sind jedoch nur der Anfang einer Langzeitverpflichtung, die die Stadt für Jahrzehnte finanziell bindet. Die symbolische Botschaft: Wir sparen an Menschen, um Symbole zu bauen.

Klimapolitik und Kurzsichtigkeit: Eine verpasste Chance

Diese Kurzsichtigkeit ist nicht nur fiskalisch, sondern auch ökologisch selbstzerstörerisch. Der Staatsgerichtshof hat klar anerkannt, dass der Klimawandel eine Notlage darstellt, die das Lockern der Schuldenbremse rechtfertigen kann. Doch in Bremerhaven scheut man sich, das Kind beim Namen zu nennen. Ein Antrag zur konsequenten Klimastrategie wurde in der Debatte lachend abgewiesen.

Das ist fatal. Klimaschutz hätte nicht nur die Umwelt geschützt, sondern auch den Haushalt. Eine solche Strategie hätte die juristische Begründung der Kreditaufnahme des Landes gestärkt. Wer auf kommunaler Ebene eine konsequente Klimastrategie ablehnt, sabotiert die systemische Hilfestellung des Landes und die juristische Rechtfertigung für die Notlage.

Demokratie auf Kante: Die unbequeme Wahrheit von Lehe und Arendts Warnung

Die Verweigerung, die Wirklichkeit anzuerkennen, zeigt sich nicht nur in den Haushaltszahlen, sondern auch in der sozialen Realität. Besonders in Stadtteilen wie Lehe berichten Betreuer des Lehe-Treffs von Jugendlichen, die sich in ihrem „Sozialraum regelrecht gefangen“ fühlen. Sie leiden unter Belästigungen, Übergriffen, fehlenden Perspektiven und Kriminalität.

Dieses soziale Faktum steht im krassen Widerspruch zum oft optimistischen politischen Wunschbild der Stadt. Die Neigung, diese unbequeme Wahrheit zu ignorieren, weil sie nicht ins Narrativ von Wachstum und Fortschritt passt, schafft einen Nährboden für politischen Zynismus. Bürger ziehen dann ihre eigenen Schlüsse: „Wenn meine Wahrheit in der Demokratie eh nur formal ist, dann kann ich auch Autokraten wählen und spare mir den Aufwand.“

Hannah Arendt warnte davor, dass in der Auflösung des politischen Raumes und der Vereinsamung des Individuums die eigentliche Ursache für das Aufkommen totalitärer Regime liegt. Eine legalistische, aber unempfindliche Verwaltung, die Stimmen ignoriert, untergräbt das Fundament der Legitimität und zerstört am Ende ihre eigene Autorität.

Ein Appell für Respekt und Zusammenarbeit

Demokratie auf Kante – das ist kein Alarmruf. Es ist eine Einladung. Zur Geduld, zum Zuhören. Und zum Mut, das Offensichtliche nicht länger zu übersehen.

Mit Blick auf alle Beteiligten, die in diesem Konflikt stehen, gilt: Jeder der Akteure gibt sein Bestes, das ist unbestreitbar. Aber manchmal reicht das nicht. Und genau hier liegt der Kern des Problems: Es mangelt oft am Respekt voreinander. Respekt vor anderen Meinungen, Respekt vor anderen Lebensrealitäten, Respekt vor dem Engagement des Einzelnen.

Wenn dieser Respekt wieder zur Grundlage unseres Miteinanders wird, dann müssen eben alle das geben, was sie können – um unsere Demokratie von der Kante zurückzuholen und gemeinsam eine lebenswerte Zukunft zu gestalten.

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