Fahrradstraßen, die Innenstadt und ein Lattenzaun. Dieser Text begleitet das unten verlinkte Video.
Was haben eine Fahrradstraße, ein Lattenzaun und eine verwaiste Innenstadt miteinander zu tun?
Das Bindeglied ist ein Gedicht von Christian Morgenstern, der Lattenzaun.

CHRISTIAN MORGENSTERN

Der Lattenzaun

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri – od – Ameriko.

1905

Dumm stehen sie da, die Latten, weil ein Architekt ihnen den Raum dazwischen wegnahm und aus dem Raum ein Haus gebaut hat.
Das Gedicht bringt das Konzept des Raumes auf den Punkt.
Erst der Zwischenraum, der leere Raum, macht aus den Latten einen Lattenzaun.



Der Titel eines zentralen Buches von Jan Gehl, der Stadtplaner, der aus Kopenhagen erst die Stadt gemacht hat, die sie heute ist, heißt: Leben zwischen Häusern.
Der Kern seines Denkens hat nicht mit den Gebäuden zu tun, sondern mit dem Leben, das sich zwischen den Gebäuden abspielt, dem Raum.
Und die Fahrradstraße?

Münster, Bohlweg


Der Streit zwischen Autos und Fahrrädern hat etwas damit zu tun, wie wir den VerkehrsRAUM für uns in Anspruch nehmen, ihn besetzen. Beim Verkehr geht es immer um die Frage: wer hat die Hoheit über den Raum? Zurzeit unbestritten das Auto!


Was ist mit der Innenstadt?
Der Raum ist hier die Art und Weise, wie wir die Innenstadt, den Raum zwischen den Gebäuden nutzen.

Der Streit zwischen Jane Jacobs und Robert Moses ( Ich habe das Thema in einem Beitrag behandelt: ( ) war ein Streit um den städtischen Raum, wer diesen nutzen kann und darf.

Die 10/15 Minuten Stadt, die Definition des Raumes durch die Zeit.

EIne Schrift der Friedrich Ebert Stiftung nimmt genau dieses Konzept auf, und entwirft ein neues Konzept für Mobilität.

FES, CHINA :
Paradigmenwechsel oder inkrementelle Veränderungen?  Mobilität für lebenswerte und soziale Städte gestalten
René Bormann, Philine Gaffron, Ingo Kucz.
Um das Konzept der 15 Minuten Stadt zu verstehen, ist diese Schrift zentral.
Mein Video zu diesem Text:

Man kann das mit dem Raum auch aus der Sicht eines Hundes sehen.
Ich habe in einem Video genau diese Sicht eingenommen. Stadtplanung: wie Hunde Städte planen würden.

Es wären dann Städte, in der sich auch Menschen sehr wohlfühlen würden


v = s/t,

Raum/ Zeit = Geschwindigkeit.
Der Grundstoff unseres Lebens. Aber schon der Philosoph und Theologe Ivan Illich fand heraus, daß die moderne Mobilität uns eher langsamer macht. Sie ist eine Illusion.
Ein Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Pseudomobilität

Für unsere moderne Mobilität opfern wir viel Zeit, um die Kosten aufzubringen, die sie verursacht.

Bezieht man die Arbeitszeit mit ein, die wir aufwenden müssen, um unsere Mobilität zu finanzieren, dann bewegen wir uns aktuell nicht schneller als in Zeiten der Pferdefuhrwerke.
Wir bringen aber damit einen ganzen Planeten an seine Grenzen.

Illich lebte zuletzt in Bremen, und unterhielt dort einen philosophischen Zirkel.

Diese enge Verbindung von Raum und Zeit bei der Mobilität wird heute vernachlässigt, weil nur noch die Geschwindigkeit zählt, und nicht mehr die Faktoren, aus denen sie errechnet wird.


Aber nicht nur beim Verkehr, auch bei der Planung der Innenstadt, bei der Diagnose, warum sie nicht mehr funktioniert, vergessen wir die Funktion des Raumes.

War die Innenstadt bis vor wenigen Jahren noch die Schnittmenge von Gebäuden, Erlebnis und Besorgungen, so verschwand erst die Ebene Erlebnis, da wir uns um das Lagerfeuer der Neuzeit, dem Fernseher und später das Internet versammelten. Aber wir taten das nicht mehr gemeinsam, sondern jeder in seinem kleinen, privaten Habitat.
Dann fiel auch noch der Faktor Besorgung des täglichen Bedarfes fort, da wir mit dem Auto in die Einkaufszentren fuhren, um unseren Bedarf zu decken, und später dann eben im Internet bestellten.

Übrig blieb das Skelett der Gebäude, das, was einmal die Innenstadt war.

Es hilft nicht, Gebäude zu wechseln, neue zu bauen, abzureißen.

Es fehlt der Raum zwischen den Gebäuden.

Wie können wir das wieder reparieren?

Jahn Gehl sieht genauer hin, er beobachtet.
Er verlässt sich nicht auf schnell angefertigte Machbarkeitsstudien.
Er beobachtet die Menschen, wie sie den Raum zwischen den Gebäuden nutzen.
Und genau dort setzt er an! Sein Maßstab ist der Mensch, und keine Konsumlogik.

Wir wissen, was uns fehlt, in der Innenstadt: Konsum ist es nicht, den können wir anders befriedigen.

Wir brauchen wieder das Lagerfeuer, den Ort, an dem wir uns versammeln, austauschen, Geschichten erzählen.

Denn diesen Ort kann weder Konsum, noch Internet bieten.
Diesen Ort können wir nur selbst, körperlich erfahren und herstellen.

Gebäude sind nett. Aber nicht so wesentlich für eine funktionierende Innenstadt.
Sie zu ersetzen, ist keine Lösung, denn sie sind nicht das Problem.

Plätze für Menschen, die werden wieder wichtiger. Aber wir haben es verlernt, wie solche Plätze aussehen müssen, da wir Plätze nur noch als Parkplätze kannten.

Ein Beitrag in der FAZ: Auf Parkplatzsuche, VON GÜNTER MURR, FRANKFURT


Bremerhaven braucht kein neues Karstadtgebäude, Anker und was weiß ich.

Bremerhaven, und nicht nur Bremerhaven, braucht einen Paradigmenwechsel.
Aber, es sieht nicht so aus, als wenn die Verantwortlichen diesen langsamen Weg gehen wollen.
Sie sind zu sehr dem Faktor Zeit unterworfen, dem Turnus von Wahlen.
Den Raum, den sehen sie nicht mehr.


Das alles steckt für mich in diesem Gedicht.
Und es ist ein schönes Beispiel, warum ich Lyrik so hoch einschätze.
Sie gibt mir den Raum, eigene Gedanken zu entwickeln.

Ich glaube nicht, dass Christian Morgenstern Fahrradstraßen kannte, oder die Innenstadt von Bremerhaven.

Aber das Gedicht gibt Raum für viele, auch für diese Themen.
Es zeigt, wie wir die modernen Probleme angehen können, in dem wir nicht die Latten sehen, sondern auch den Raum dazwischen.

Mein Video dazu:

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